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Selbstorganisation
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| Siegmar Nesch

Selbstorganisation: wie Führungskräfte ihr Unternehmen erfolgreich an die Wand fahren…

Selbstorganisation in Unternehmen wird mittlerweile fast schon als Allheilmittel besonders performanter Organisationen angepriesen. Es ist Zeit, sich mit diesem Thema kritisch auseinanderzusetzen, damit die von mir gewählte Headline nicht Platz greift. Ist Selbstorganisation in der Praxis tatsächlich geeignet, Unternehmen auf eine höhere Stufe der Wertschöpfung zu führen? Bedingen sich agiles Management und Selbstorganisation wirklich wie ein eineiiges Zwillingspaar? Funktionieren Netzwerke nur noch mit Selbstorganisation? Und vor allem: trachten wirklich alle Mitarbeitenden in Unternehmen, die Führungskräfte eingeschlossen, nach Selbstbestimmung und Autonomie?

Zweifel kommen spätestens dann auf, wenn wir einen kritischen Blick auf die Auswirkungen der aktuellen Krise werfen. Nicht, dass ich falsch verstanden werde: die von den Verantwortlichen getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie hatten und haben mutmaßlich ihre Berechtigung. Was mich allerdings nachdenklich stimmt, ist die in weiten Teilen unreflektierte Zustimmung zu den weitreichenden Einschränkungen in nahezu allen Lebensbereichen. Ein kritischer Diskurs auf Basis unserer demokratischen Verfasstheit wurde nur von einem geringen Teil der Bevölkerung angestrengt und ist weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit abgelaufen. Kaum werden die Maßnahmen wieder gelockert, bricht sich eine ungezügelte Rückkehr zu alten Mustern Bahn. Es zeigt sich einmal mehr, dass viele Menschen in für sie schwierigen Situationen kaum zur Übernahme von Verantwortung bereit sind, und zwar auch nicht für ihr eigenes Tun (und Lassen). Ist Selbstorganisation, die ohne Selbstverantwortung nicht funktionieren kann, eine Schönwetterphilosophie? Das muss sie nicht zwangsweise sein, wenn die Hebel an der richtigen Stelle angesetzt werden.

Dazu habe ich immer das Beispiel von Buurtzorg oder vielmehr deren deutscher Kopie im Kopf. Das niederländische Unternehmen Buurtzorg ist eines der profitabelsten und am schnellsten wachsenden Unternehmen auf Basis von Selbstorganisation mit mittlerweile über 14.000 Mitarbeitenden. Im Bereich der ambulanten Pflege arbeiten jeweils 4-12 Personen in selbstorganisierten Teams. Diese übernehmen nahezu sämtliche Aufgaben von der Einsatzplanung bis zur Dokumentation und Vorbereitung der Abrechnung. Den Overhead in der Zentrale kann man an wenigen Händen abzählen.

Vor ein paar Jahren wollte ein Unternehmer dieses Modell in unseren Gefilden nachbauen. Dafür hat er die besten Pflegefachkräfte akquiriert, die er am Arbeitsmarkt zu hohen Löhnen bekommen konnte. Seine Mitarbeitenden hat er mit umfangreichen formalen Kompetenzen ausgestattet und „auf den Pflegemarkt losgelassen“. Nach nicht einmal einem Jahr stand das Unternehmen kurz vor der Insolvenz. Die Pflegekräfte waren es schlicht und ergreifend nicht gewohnt oder bereit, in dem Maß Eigenverantwortung zu übernehmen, wie es das Modell erfordert hätte. Dieses Beispiel zeigt, dass allein der Wille des Managements sowie das Schaffen der notwendigen Strukturen und Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Implementierung von Selbstorganisation nicht ausreichen.

Selbstverantwortung wird dort zurückgedrängt, wo die Organisation ein enges Netz an Regelungsaufgaben übernimmt. Viele Mitarbeitern fühlen sich dabei schon im unteren Regelungsbereich sehr wohl. Das ist keine Wertung, sondern eine grundlegende Feststellung, weil sie dem richtigen Vorgehen bei der Einführung oder Weiterentwicklung von selbstorganisierenden Elementen die Richtung weist und gleichzeitig ein wichtiger Hinweis auf Grenzen der Selbstorganisation ist. Das gilt im Übrigen in Teilen auch für Führungskräfte (dieses Thema werde ich gesondert in einem der nächsten Blogbeiträge aufgreifen).

Die Übernahme von Verantwortung ist in den meisten Unternehmen kein Selbstläufer und muss beharrlich über viele Jahre und an vielen Stellen entwickelt werden. Ansonsten entsteht schleichend ein Verantwortungsvakuum, welches wiederum Organisationen ernsthaft gefährden kann.

Für die Einführung von Elementen der Selbstorganisation ist ein sehr breiter Ansatz notwendig:

  • Recruiting: eines der zentralen Kriterien sollte beim Einstellungsprozess die Prüfung der Bereitschaft, (Selbst-) Verantwortung zu übernehmen, darstellen
  • Personalentwicklung: die Aus- und Weiterbildung muss intensiv mit Elementen der Selbstverantwortung penetriert werden
  • Unternehmenskultur: eine ausgeprägte und vor allem gelebte Fehlerkultur ist der Humus für Selbstverantwortung und Selbstorganisation. Ohne Vertrauen gibt es keine Verantwortung und ohne Verantwortung keine Selbstorganisation
  • Führungsarbeit: Loslassen will gelernt sein; eine gelebte Verantwortungshierarchie gibt die Richtung vor und bereitet den Boden für flexibles Handeln
  • Formale Regelungen/Compliance: die Inhalte bestimmen das Maß der notwendigen gestalterischen Freiräume
  • Klare Statements des Top-Managements mit konkreten Beispielen und Geschichten aus ihrem eigenen Erleben

In meinem Buch „Führen mit Wert und Verstand“ habe ich mich mit dem Thema „Empowerment“ auseinandergesetzt. Es ist eine wesentliche Voraussetzung für wirksame Selbstorganisation. Lesen Sie nachfolgend Auszüge zu diesem Thema (Seiten 119 - 121):

Die Kunst des Loslassens

Bevor sich eine Führungskraft mit den Mitarbeitenden beschäftigt, sollte sie bei sich selbst anfangen. „Die Kunst des Loslassens“ lautete der Titel eines Vortrags, den ich zigfach vor Führungskräften gehalten habe. Empowerment der Mitarbeitenden und das Aufgeben von Mikromanagement ist dieselbe Seite einer Medaille. Das ist schnell gesagt und doch schwer umgesetzt. Schließlich bedeutet das Verlassen eines Mikromanagement-Bierdeckels für die Führungskraft mehr als das kognitive Befähigen der Mitarbeitenden über Standardangebote der Weiterbildung. Erfolgversprechend ist eine durch das Gespür der Führungskraft entwickelte Sicht auf die jeweilige Person und das für sie passende Angebot zur Entwicklung dieser Fähigkeiten.

Loslassen im Sinne echter Delegation bedarf eines stabilen wechselseitigen Vertrauensverhältnisses. Dieses kann sich entwickeln, wenn zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden ein kontinuierlicher Dialog mit vertrauensbildenden Rückkopplungsschleifen erfolgt. Zudem empfinden viele Manager Empowerment als Macht- und Kontrollverlust, weshalb das Einfordern von Empowerment allein noch keine Lösung darstellt. Die weichen Themen der Führungs- und Unternehmenskultur gilt es bei der Umsetzung mindestens genauso intensiv zu betrachten, wie die im ersten Moment logisch erscheinenden Themenstellungen mit Blick auf die Beschäftigten.

Empowerment und Agilität

„Als Chef muss ich demütig sein, mich nicht mehr so wichtig nehmen, mehr zuhören, mehr Leute integrieren und involvieren. Das ist eine neue Haltung. Weg vom Herrschaftswissen und der Projekt- und Planüberwachung hin zum involvierenden, koordinierenden und demütigen Manager.“ So erklärt der St. Galler Leadership-Professor Wolfgang Jenewein die notwendige Haltung von Führungskräften im agilen Unternehmenskontext.

Empowerment ist eine der Säulen von Agilität und Voraussetzung für das Funktionieren moderner Organisationskonzepte. Ohne starke, weil eigenverantwortlich handelnde Mitarbeitende sind autonome Teams nicht vorstellbar. Dabei passen der Anspruch von agilem Management und die Bedürfnisse von Mitarbeitenden hervorragend zusammen, denn Menschen streben nach Selbstwirksamkeit. Mangelt es den Mitarbeitenden an diesem zentralen Punkt an den notwendigen Perspektiven, bekommen beide – das Unternehmen und die Mitarbeitenden – ein Problem. Das Engagement sinkt und gleichzeitig steigt die Unzufriedenheit. Das zu erkennen und entsprechende Entwicklungsmöglichkeiten anzubieten, ist eine zentrale Führungsaufgabe.“