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Führung in virtuellen Arbeitsstrukturen
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| Siegmar Nesch

Eines der zentralen Ergebnisse der aktuellen Herausforderungen ist die beschleunigte Virtualisierung der Arbeitsstrukturen in Unternehmen. Ohne ausschweifende innerbetriebliche Diskussionen zu führen, musste in den letzten Wochen vieles einfach ausprobiert und umgesetzt werden. Selbst wenn längst nicht alles reibungslos läuft, sammeln Unternehmen und Mitarbeitende derzeit einen enormen Erfahrungsschatz an – im Positiven, wie im Negativen. Die Virtualisierung wird nicht nur ein temporärer Effekt bleiben, sondern die Zusammenarbeit in Unternehmen für die nächste Dekade prägen. Grund genug, sich mit diesem Thema aus der Führungsperspektive näher zu befassen.

Führung in virtuellen Strukturen folgt anderen Mustern als Führung Face-to-Face. Viele Führungskräfte tun sich damit enorm schwer, weil sie es zum Beispiel gewohnt sind, unmittelbare Kontrolle zu üben. Auch darf nicht vergessen werden, dass wir Menschen soziale Wesen sind, die unmittelbare Nähe zu anderen Personen genauso zum gesunden Leben brauchen, wie die Luft zum Atmen oder das Wasser zum Trinken. Aus dem Bereich der Altersforschung wissen wir etwa, dass insbesondere zwei Faktoren ein langes Leben begünstigen: positives Denken und ein stabiles Netz sozialer Beziehungen. Als ich vor fast 20 Jahren als Projektleiter die Einführung von alternierender Telearbeit verantwortete, war dieser Aspekt zentral. So haben wir für jeden „Homeworker“ feste Zeiten der Rückkopplung und der Präsenz im Team etabliert eine zusätzliche, herausfordernde Aufgabe für Führungskräfte.

Ein Netz stabiler Beziehungen

Für die Führungskraft bedeutet Führung auf Distanz zuallererst Vertrauen aufzubauen und zu leben. Statt engen Vorgaben für die Mitarbeitenden sorgt die (großzügige) Festlegung von Bandbreiten für den Handlungsspielraum und die notwendige Bewegungsfreiheit – mal eben am Schreibtisch vorbei zu schauen, funktioniert halt nicht mehr. Oft sind schon allein daraus Konflikte vorprogrammiert, die offen adressiert und bearbeitet gehören. In solchen Arbeitsstrukturen hat sich die ergebnisorientierte Führung durchgesetzt. Statt einzelnen Schritten und Maßnahmen werden die erwarteten Ergebnisse mit den Mitarbeitenden besprochen. Wie sie dahin kommen, muss ihnen größtenteils selbst überlassen werden. Wirksame Führungskräfte achten bei der Führung auf Distanz auf gute Kommunikation im Sinne einer klaren Sprache. Achten sie darauf, dass viel visuelle Kommunikation, z.B. über Videokonferenzen, stattfindet. Menschen sind, wie bereits erwähnt, physisch geprägt und die Botschaften kommen deutlich unmissverständlicher an, wenn sie Blickkontakt haben und körpersprachliche Signale zumindest teilweise erkennen und bewerten können.

Ergebnisorientierte Führung ist ebenso eng verknüpft mit einem stabilen Wertefundament und einem gemeinsamen Sinnerleben. Unternehmen, die bereits vor der aktuellen Krise in dieses Feld sowie in eine Vertrauenskultur investiert haben, sind nun in virtuellen Arbeitsstrukturen deutlich im Vorteil.

Vertrauenskultur

Mir ist noch ein Aspekt wichtig, nämlich der weit verbreitete Irrtum, dass die Führung an der langen Leine zu einem Laissez-Faire-Stil bei den Mitarbeitenden führt. In der Regel ist das Gegenteil der Fall. Oft setzen sie sich selbst unter Druck, sei es, weil sie sich für den Vertrauensvorschuss rechtfertigen wollen oder weil sie noch schnell am Abend die Zeit nutzen wollen, etwas fertig zu stellen.

Mein besonderer Tipp für die Führung auf Distanz – v.a., wenn große Teile des Teams betroffen sind – besteht darin, höchst individuell vorzugehen. Finden sie möglichst schnell heraus, was ihre Mitarbeitenden brauchen, um gemeinsam mit Ihnen in dieser Arbeitsform zu performen. Was für den einen die lange Leine ist, bedeutet für den anderen ein hohes Maß an Unsicherheit und umgekehrt. Gute Kommunikation und eine klare Sprache sind die Basis virtuell geprägter Zusammenarbeit.

In meinem Buch „Führen mit Wert und Verstand“ habe ich mich mit dem Thema „Verantwortungshierarchie“ auseinandergesetzt. Diese bildet das Rückgrat für das erfolgreiche Führen auf Distanz. Lesen Sie nachfolgend Auszüge zu diesem Thema (Seiten 124 und 125):

„Neben dem Empowerment-Aspekt für die einzelne Führungskraft bedarf es einer Führungskultur, die konsequent Elemente des Loslassens im Sinne der Delegation von Verantwortung fördert. In einer Verantwortungshierarchie werden Führungskräfte und Mitarbeitende gleichermaßen in einer unternehmerisch denkenden Haltung unterstützt. Diese Kultur lässt im Idealfall eine Handlungsweise zu, die es den Mitarbeitenden erlaubt, selbst zu spüren und zu entscheiden, was jeweils das Beste für das Unternehmen ist. Ausgangspunkt dieser Betrachtung ist nicht das Auflösen von Hierarchie, sondern vielmehr stets die Frage, wer an welcher Stelle die bestmögliche Expertise für Entscheidungen besitzt und wie daraus abgeleitet die Verantwortung zielgenau dorthin gesteuert wird.


Wichtig

Verantwortung muss dort hingesteuert werden, wo die bestmögliche Expertise gegeben ist.


In einer von Anweisungen geprägten Kultur werden Mitarbeitende zu Maschinenhandeln erzogen. Aufträge werden einfach ausgeführt, ohne die Sinnhaftigkeit zu hinterfragen oder eigenes Wissen in Konzepte und Entscheidungsprozesse einzubringen. Geht etwas schief, sind Rechtfertigungsorgien oft nicht weit, anstatt diese Ereignisse als Lernchance zu begreifen – von Fehlerkultur meist keine Spur. Mitarbeitende stumpfen ab, verlieren ihre intrinsische Motivation und machen nur noch Dienst nach Vorschrift. Zudem werden Unternehmen in solchen Kulturen abhängig von einzelnen Führungskräften, die das System beherrschen. Wenn sie in einen anderen Bereich wechseln oder gar das Unternehmen verlassen, bricht Hektik und im schlimmsten Fall Chaos aus.

Eine von Verantwortung geprägte Kultur bereitet hingegen den Boden für agiles Management und moderne Organisationskonzepte. Sie bildet eine stabile Basis und vermeidet, dass Mitarbeitende am Ende gegen die Interessen der Führungskraft agieren. Stattdessen entwickelt sie die Mitarbeitenden zu Unternehmern im Unternehmen.

Doch beileibe nicht jedes Unternehmen ist in der Lage, die eigene hierarchische Ordnung zugunsten neuer, überwiegend selbstorganisierender Organisationskonzepte aufzugeben. Zum einen, weil es verschiedene Aufgaben und Verantwortungsbereiche gibt, die besser in einer klaren Hierarchie gemanagt werden. Dazu gehören z. B. Aufgaben mit einem hohen Routinecharakter oder Aufgaben, die hocheffizient organisiert werden müssen. Zum anderen, weil in Unternehmen mit einer langen Tradition und/oder großen Unternehmen und Konzernen Hierarchien meist tief in deren DNA verwurzelt sind.

Selbstverständlich darf die Gesamtorganisation nicht überstrapaziert und überfordert werden. Radikale Ansätze im agilen Setting würden fast schon zwangsläufig in die Sackgasse führen, weshalb evolutionären Ansätzen Vorrang eingeräumt werden sollte. Neben dem organisatorischen Zuschneiden von Aufgabenpaketen, die für agiles Management prädestiniert sind, oder dem Zukauf bzw. der Gründung von Start-ups bildet der konsequente Weg hin zu einer Verantwortungshierarchie die Grundlage für die Umsetzung moderner Managementmethoden und Organisationsprinzipien. Diesen sog. hybriden Modellen gehört in den meisten Unternehmen die Zukunft. Sie schaffen eine Plattform, auf der die notwendigen konkreten Verzahnungen der Prozesse und Methoden erfolgen können.

In der Praxis existieren unterschiedliche Ansätze zur Entwicklung einer entsprechenden Führungskultur. Unser Unternehmen war lange Zeit aufgrund der Unternehmenshistorie durch eine Anweisungshierarchie geprägt. Neben dem aktiven Umsetzen von Entwicklungswerten (vgl. Kapitel 2.3) hat die Einführung eines transparenten Kompetenzmodells den langwierigen Change hin zu einer Verantwortungshierarchie maßgeblich unterstützt. Zentrale Kompetenzen sind in diesem Zusammenhang der Unternehmer- und der Unternehmensgeist, deren Umsetzung beispielsweise in regelhaften Mitarbeitergesprächen gemeinsam reflektiert wird.“