neschconsulting

Die Rolle der Führungskraft in Zeiten besonderer Herausforderungen
Zurück zu Journal
| Siegmar Nesch

In diesen Zeiten strömen auf die Führungskräfte zusätzliche, manchmal auch diffuse, Führungsanforderungen ein. Plötzlich ist Krisenmanagement gefragt und Führung auf Distanz steigt wie Phönix aus der Asche auf. Die Gefahr, den Überblick zu verlieren und damit wichtige sowie dringliche Aufgaben nicht mehr mit dem gebotenen Fokus anzugehen, ist jetzt besonders groß. Deshalb geht meine erste Empfehlung dahin, dass sich Führungskräfte auf ihre individuellen Stärken konzentrieren und sich vor allem schnell Ihrer (in Teilen neuen) Rolle bewusst werden. Dazu braucht es regelmäßige Reflexion, und zwar auch genau dann, wenn der Stresspegel besonders stark zunimmt.

Eine gute Führungskraft zu sein heißt nicht, alles zu wissen und alles zu können. Im Gegenteil: gehen Sie vielmehr offen und offensiv mit Ihren eigenen Wissenslücken um. Dieses Verhalten wird von Teammitgliedern nicht als Schwäche, sondern als ausgewiesene Stärke erlebt. Es zeigt, dass eine Führungskraft reflektiert ist und Größe besitzt. Sie schaffen damit Nähe im emotionalen Raum. Gerade in Zeiten besonderer Herausforderungen ist emotionale Nähe wichtiger, als mit Sachargumenten Überzeugungsarbeit für etwas zu leisten. Beziehen Sie stärker Ihre Mitarbeitenden aktiv in (Entscheidungs-) Prozesse ein und legen Sie damit den Grundstein für agiles Management – ich bezeichne dieses Vorgehen als „die Kunst, loszulassen“.

Die Kunst, loszulassen

Leider reißen Führungskräfte in Krisensituationen gerne alles an sich, anstatt zwar mit klaren Botschaften, aber gleichzeitig einer offenen Haltung dem Team gegenüber ein stabiles Wissens- und Erfahrungsnetzwerk zur Entfaltung zu bringen. Dieses bietet den Nährboden für schnelle und gleichzeitig breit abgewogene Entscheidungen – und die sind in der Krise besonders wichtig.

In der gegenwärtigen Krise entstehen neue Möglichkeiten. Sie bildet etwa für Unternehmen und deren Führungskräfte eine stabile Brücke, die Rolle und die Erwartungen an gute Führung in selbstorganisierten Settings zu schärfen und zu stärken. Denn eines ist auch klar: in flacheren Organisationen und selbstorganisierenden Settings wird nicht weniger Führung benötigt, sie wird vielmehr anspruchsvoller, weil individueller und vielfältiger. Das schafft neuen Raum für die Kompetenzentwicklung von Führungskräften.

Flache Hierarchie…

In meinem Buch habe ich mich mit den Kompetenzanforderungen an Führungskräfte auseinandergesetzt. Lesen Sie nachfolgend Auszüge aus der Einführung zu diesem Thema (Seiten 198-200):

„Die eierlegende Wollmilchsau

Der Führungsalltag ist durch schwierig zu prognostizierende und teilweise divergierende Entwicklungen geprägt. Die vorherrschende Komplexität und die geringe Planungssicherheit führen zu Verunsicherung, und zwar auch bei den Mitarbeitenden. Von den Führungskräften wird gefordert, dass sie innovativ sind, den Mitarbeitenden Sicherheit geben und nebenbei noch die Veränderungsfähigkeit der Organisation ermöglichen. Außerdem sollen sie die Selbstorganisation ihres Teams unterstützen, über Distanz führen, weitgehenden Flexibilisierungswünschen entgegenkommen und dennoch oder gerade deshalb performante Einheiten formen. Die notwendigen Kompetenzanforderungen für dieses Idealbild einer Führungskraft würden ein ganzes Buch füllen.

Fredmund Malik findet hierfür in seinem Standardwerk der Managementliteratur eine sehr treffende Formulierung: „Irgendwie ist die Vorstellung in die Welt gekommen, Manager – und insbesondere Top-Manager – müssten eine Kreuzung aus einem antiken Feldherrn, einem Nobelpreisträger und einem Fernseh-Showmaster sein. Nun kann man diesen Idealtypus zwar durchaus beschreiben, was weiterhin reichlich getan wird, aber wir können ihn in der realen Welt nicht finden.“

Insofern macht es Sinn, sich auf die für wirksame Führung erforderlichen Grundkompetenzen zu konzentrieren. Gleichzeitig sollte im Management ausreichend Spielraum für individuelle Kompetenzen und deren Ausprägungen vorhanden sein. Jede Führungskraft entwickelt im Laufe der Jahre seine Persönlichkeit und seine Fertigkeiten weiter. Diese in einheitliche Schemata zu pressen, verhindert Vielfalt und zusätzliche Handlungsoptionen zur Verbesserung der Gesamtperformance einer Organisation. In diesem Kapitel fokussiere ich mich auf Kompetenzen, welche aus meiner Sicht in Zeiten allgegenwärtiger Transformationen und in Bezug auf werteorientiertes Führen die Wirksamkeit von Führungskräften besonders prägen und stärken.


Praxistipp

Fördern Sie nicht nur die in Modellen abgebildeten Standardkompetenzen von Mitarbeitenden. Erkennen und stärken Sie individuelle Kompetenzausprägungen.


Die Aufgabe beim Kompetenzaufbau liegt zunächst im Weglassen. Führungskräfte sind nun mal keine eierlegenden Wollmilchsäue und alte Zöpfe gehören im Bereich geforderter Kompetenzen kritisch bewertet und abgeschnitten. Überbordende Anforderungen vernebeln den Blick auf die wirklich notwendigen Kompetenzen und führen zu indifferenten Anforderungsprofilen. Die Personalentwicklungsmaßnahmen werden mit der Gießkanne gestreut anstatt in der individuell passenden Form erbracht.

In einigen Unternehmen liegen Kompetenzmodelle vor. Selten erfolgt eine regelmäßige und vor allem kritische Überprüfung dieser Modelle. Daraus erwächst die Gefahr, dass künftig notwendige Kompetenzen zu wenig entwickelt werden und ein Führungskader entsteht, der morgen den Aufgaben nicht mehr gewachsen ist. Betroffene Führungskräfte und Mitarbeitende geraten zudem schnell in eine Überforderung, die ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Die Verkürzung der Halbwertszeit des Wissens (vgl. Kapitel 8) wirkt sich unmittelbar auf die Halbwertszeit der Kompetenzen aus. Noch vor ein paar Jahren gehörten die Kompetenzen und das Wissen zum humanen Anlagevermögen, heute allenfalls noch zum Umlaufvermögen.

Der Trend zum Abbau von Hierarchien und einer geringeren Anzahl an (hierarchischen) Führungspositionen beeinflusst das Kompetenzspektrum und den Umgang mit Kompetenzen ebenfalls. Denn ein Abbau von Hierarchiestufen führt nicht automatisch zu weniger Führungsaufgaben und zu geringeren Führungsanforderungen – im Gegenteil. Führung im Sinne von Steuerung, Koordination und Kontrolle fällt nicht weg, sondern verändert lediglich ihr Gesicht. Statt von dem „Chef“ spricht man von dem „Primus inter Pares“ und freut sich gleichzeitig über flachere Hierarchien. Die Managementaufgaben bleiben dadurch allerdings nicht nur erhalten, sondern werden anspruchsvoller. Führung ohne direkte Weisungsbefugnis und/oder über virtualisierte Strukturen folgt anderen Mustern als in klassischen Strukturen. Ein Blick in die Start-up-Szene zeigt überdies, dass sich in fast allen neu entstandenen Organisationen nach einer Wachstumsphase „hierarchische“ Führungsstrukturen herausbilden; sie werden nur bisweilen anders genannt.


Wichtig

In flachen Hierarchien steigt der Anspruch an Führung.


Häufig treffe ich Führungskräfte an, die mit zu vielen administrativen Aufgaben betraut sind und denen in der Folge zu wenig Arbeitszeit für ihre eigentliche Führungsarbeit zur Verfügung steht. Das Problem besteht in diesen Fällen nicht in den fehlenden Kompetenzen, sondern vielmehr der Möglichkeit zur Entfaltung bereits vorhandener Kompetenzen.

Kompetenzanforderungen verändern sich zudem durch eine Vielzahl neuer Berufs- und Tätigkeitsfelder. New-Work-Formate wirken sich im Hinblick auf die Definition von Arbeit und Zusammenarbeit (vgl. Kapitel 1.4) unmittelbar auf die Frage der Führungskompetenzen aus. In diesem Zuge werden zunehmend fachunabhängige Anforderungen, wie zum Beispiel digitale Kompetenzen, und universelle Fähigkeiten Platz greifen.“